Nr. 4
«Eine Stadt braucht
mehr soziale
Durch­mischung»

Ja, aber richtig!

Durchmischung klingt doch gut! Da sind wir mit der Immobilien-Lobby ausnahmsweise einer Meinung. Oder? Städte brauchen Vielfalt? Ja! Bloss wird dieses Argument leider missbraucht.

In Zürich findet das Gegenteil von sozialer Durchmischung statt.

1.
Zürich wird immer exklusiver.

Mit dem Argument der ’sozialen Durchmischung‘ begründet die Immobilien-Lobby, warum jetzt z.B. in Schwamendingen teure Wohnungen gebaut werden sollen. Aber nicht, warum am Zürichberg eine bezahlbare Siedlung mit 200 Wohnungen entstehen sollte. ‚Durchmischung‘ heisst für sie also ‚Einzug von Reichen‘. Das mag punktuell an einzelnen Orten mehr ‚Durchmischung‘ erzeugen. Aber gesamtstädtisch sorgen sie damit für eine stetige Entmischung. Und das ist politisches Kalkül: Damit steigen nämlich die Steuereinnahmen. Für jene, die deutlich weniger als 8000 Franken pro Monat verdienen, wird es wirklich eng in Zürich.1

1) Tagesanzeiger, Beat Metzler, 8.8.2022: «Reiche übernehmen die Stadt»

Steigende Steuereinnahmen

Die Stadt Zürich nimmt heute 42% mehr Steuern ein als noch 2002, während gleichzeitig nur 9,6% mehr Steuerzahlende in Zürich wohnhaft sind.1 Es leben heute doppelt so viele Personen mit einer Steuerrechnung von 150’000 hier als vor 20 Jahren. Im gleichen Zeitraum ist der untere Mittelstand, der jährlich 20’000 bis 60’000 Franken versteuert, von 45% (2002) auf 37% (2018) geschrumpft.1 Auch das Sozialraum-Monitoring der Stadt Zürich stellt fest, dass die Median-Haushaltseinkommen seit 2000 angestiegen sind, während die Sozialhilfequote gesunken sei.2

1) Tagesanzeiger, Beat Metzler, 8.8.2022: «Reiche übernehmen die Stadt»
2) Stadt Zürich, Larissa Plüss, 2022: «Sozialräumliches Monitoring»

Wo findet in Zürich gerade Gentrifizierung statt?

Besonders der Kreis 12 (Hirzenbach, Saatlen und Schwamendingen-Mitte) und Kreis 9 (Albisrieden und Altstetten) sind deutlich im Wandel und zeigen einen starken
Einkommensanstieg. In den Kreisen 4 und 5 (insbesondere in den Quartieren Gewerbeschule, Hard und Langstrasse) zeigen sich Anzeichen von Gentrifizierungsprozessen, also einem «gewissen Austausch einer statusniedrigen durch eine statushöhere Bevölkerung.»1 Dieser Wandel zeigt sich auch am Rückgang des Jugend- und des Altersquotienten, sowie einer starken Abnahme des Anteils der ausländischen Bevölkerung. Diese Veränderungen und Verdrängungsprozesse seien laut dem städtischen Sozialraum-Monitoring vermutlich vor allem auf den Ersatzneubau zurückzuführen.2 Zukünftig von Gentrifizierung bedroht sind gemäss dem sozialräumlichen Monitoring insbesondere die Quartiere im Westen (Altstetten, Albisrieden, Friesenberg, Leimbach, Sihlfeld und Wollishofen) sowie die Quartiere im Norden der Stadt (Affoltern, Seebach, Saatlen, Schwamendingen-Mitte und Hirzenbach).3


1, 2, 3) Stadt Zürich, Larissa Plüss, 2022: «Sozialräumliches Monitoring»

Fokus: Armut

Für Menschen in Armut kann Wohnungsnot die eh schon schwierigen Lebensumstände oft noch erschweren: «Die Wohnkosten sind dabei das Hauptproblem: Sie machen bei vier Fünftel der armutsbetroffenen Haushalte mehr als 30 Prozent des Bruttoeinkommens aus. Sind die Mittel beschränkt, können solch hohe Belastungen Einschränkungen in anderen grundlegenden Lebensbereichen zur Folge haben, zum Beispiel bei den Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Ernährung. Haushalte in prekären Lebenslagen mit Einkommen knapp über der Armutsgrenze sind mit denselben Schwierigkeiten konfrontiert, wenn auch in geringerem Ausmass: die Hälfte dieser Haushalte wendet mehr als 30 Prozent des Bruttoeinkommens für das Wohnen auf.»1 Für Menschen, die bereits Sozialhilfe in Anspruch nehmen, ist es besonders belastend, die Wohngemeinde unfreiwillig wechseln zu müssen. Dadurch fallen oft wichtige soziale Strukturen weg.


1) Bundesamt für Wohnungswesen BWO, 2022: «Wohnen und Armut»

2.
Ärmere Mieter*innen werden systematisch mit reicheren ersetzt. Hallo #Gentrifizierung

Die Löhne steigen und die Sozialhilfequote sinkt – gute Nachricht? Mehr Wohlstand klingt ja erstmal vielversprechend. Das Problem ist aber, dass dieser nicht einfach dadurch entsteht, dass es jetzt allen besser geht – sondern dass die Leute ersetzt wurden: Wo renoviert wird, können nur 6,1 % der Bewohner*innen im Gebäude bleiben.1 Vor allem Menschen mit tiefen Einkommen ziehen weg, und Menschen mit hohen Einkommen ziehen anschliessend ein.

1) SPUR-Report: David Kaufmann, Elena Lutz, Fiona Kauer, Malte Wehr, Michael Wicki, 2023:
«Erkenntnisse zum aktuellen Wohnungsnotstand: Bautätigkeit, Verdrängung und Akzeptanz.» Bericht ETH Zürich

Verdrängung in Zahlen

Neue Mietende verdienen im Schnitt monatlich CHF 3623 (als Haushalt) bzw. CHF 2138 (als persönliches Einkommen) mehr als Vormieter*innen. Verdrängte Haushalte verdienen monatlich hingegen CHF 4800 weniger als der durchschnittliche Haushalt in Zürich!1


1) SPUR-Report: David Kaufmann, Elena Lutz, Fiona Kauer, Malte Wehr, Michael Wicki, 2023:
«Erkenntnisse zum aktuellen Wohnungsnotstand: Bautätigkeit, Verdrängung und Akzeptanz.» Bericht ETH Zürich

Fokus: Alleinerziehende + Kinder

Alleinerziehende sind stark von der Wohnungsnot betroffen, weil sie mit einem Einkommen für sich und die Kinder aufkommen müssen und sie wegen der Kinderbetreuung oft nur Teilzeit arbeiten können. Dies ist auch aus Gleichstellungs-Sicht problematisch, denn in neunzig Prozent der Fälle leben die Kinder bei den Müttern.1 Ein gutes Nachbarschaftsnetz kann die Situation entschärfen, was wiederum dazu führt, dass für Alleinerziehende ein Umzug relevante Konsequenzen hat. Eine weitere Benachteiligung im Falle geschiedener Eltern besteht darin, wenn Kinder ev. nicht offiziell bei ihnen angemeldet sind, jedoch regelmässig bei ihnen wohnen – so können z.B. Belegungsvorschriften in Genossenschaften nicht nachgewiesen werden.2 Für Alleinerziehende ist die Wahrscheinlichkeit, wegen eines Gebäudeabbruchs/einer Renovation verdrängt zu werden, doppelt so hoch wie für Nicht-Alleinerziehende.3


1) Zeitschrift Wohnen, 2017: «Das Wohnen gehört zu den Kostentreibern»
2) Eidgenössische Komission für Familienfragen, 2022: «Wenn die Eltern nicht zusammen wohnen – Elternschaft und Kinderalltag»
3) SPUR-Report: David Kaufmann, Elena Lutz, Fiona Kauer, Malte Wehr, Michael Wicki, 2023: «Erkenntnisse zum aktuellen Wohnungsnotstand: Bautätigkeit, Verdrängung und Akzeptanz.» Bericht ETH Zürich»

3.
Alleinerziehende, Ausländer*innen, Ältere, Kinder und Frauen sind besonders betroffen.

Vulnerable Personen werden überdurchschnittlich oft durch Hausabbrüche/Renovationen verdrängt und sind grundsätzlich am stärksten betroffen von der Wohnungskrise. Je tiefer das Einkommen ist, desto grösser ist die Belastung durch die Mietkosten.1 Es trifft also Personen, die im Tieflohnsektor arbeiten oder eine tiefe Rente beziehen oder Personen, die nicht oder nur Teilzeit arbeiten können (z.B. alleinerziehende Frauen) oder grössere Familien. Hinzu kommen Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt – beispielsweise aufgrund von gelesener Herkunft, Hautfarbe, Sexualität etc. beziehungsweise einer Überschneidung davon.

1) Bundesamts für Wohnungswesen BWO, 2022: «Wohnen und Armut»

Fokus: Alter

Auch im Alter steigt die Armutsquote, insbesondere bei den Frauen, da sie in der Altersvorsorge benachteiligt sind. Teilzeitarbeit oder Erwerbsunterbrüche aufgrund von unbezahlter Care-Arbeit werden in der Vorsorge nicht berücksichtigt, was dazu führt, dass Frauen heute im Schnitt ein Drittel weniger Rente beziehen als Männer.1 Hinzu kommt: Senior*innen, die teilweise schon Jahrzehntelang an einem Ort ihr Zuhause und ihr Umfeld aufgebaut haben, und für die ein Umzug nicht nur sehr beschwerlich ist sondern auch eine persönliche Krise darstellen kann. Immer öfter kommt es vor, dass sie mangels einer neuen bezahlbaren Wohnung vorzeitig ins Altersheim umsiedeln. Die deutlich höheren Wohnkosten trägt dann oft die Allgemeinheit.2


1) Schweizerischer Gewerkschaftsbund, Argumentarium “AHV 21 – Nein”
2) Mieten+Wohnen, Esther Banz, 27.4.2022: «Die Kosten der Verdrängung»

Fokus: Migration

Für ausländische Bewohner*innen ist die Wahrscheinlichkeit, wegen eines Umbaus oder Ersatzneubaus verdrängt zu werden, 30% höher als für Schweizer*innen. Für Personen mit Staatsbürgerschaft afrikanischer Länder ist sie sogar 3 mal höher, genauso für ‚vorläufig aufgenommene‘ Personen.1


1) SPUR-Report: David Kaufmann, Elena Lutz, Fiona Kauer, Malte Wehr, Michael Wicki, 2023: «Erkenntnisse zum aktuellen Wohnungsnotstand: Bautätigkeit, Verdrängung und Akzeptanz.» Bericht ETH Zürich»

Interview mit Hanna Hilbrant im Tagesanzeiger, 22.3.2023